85 Jahre Reichspogrom in Schwaben. 35. Tagung zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben

Organisatoren
Schwabenakademie Irsee; Bezirksheimatpflege Schwaben
PLZ
87660
Ort
Irsee
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
06.11.2023 - 07.11.2023
Von
Corinna Malek, Heimatpflege, Bezirk Schwaben

„Nie wieder!“, dieser Losung folgte das Thema der 35. Tagung zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben. Den 85. Jahrestag des Pogroms im November 1938 nahmen die Organisator:innen zum Anlass, den Blick auf die Geschehnisse in Bayerisch-Schwaben zu richten und den Abläufen vor Ort nachzuspüren. Das Pogrom läutete das Ende der bayerisch-schwäbischen Landjudengemeinden ein, lediglich die Augsburger Gemeinde überstand die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg über das Kriegsende hinaus. In der bisherigen landesgeschichtlichen Forschung fehlen eigene Mikrostudien zu den Abläufen in den einzelnen Orten; diese Lücke versuchte die Tagung zu schließen. Nach der Begrüßung der Veranstalter MARKWART HERZOG (Irsee) und CORINNA MALEK (Augsburg) übermittelte der Antisemitismus-Beauftrage der bayerischen Staatsregierung, LUDWIG SPAENLE (München), digital ein Grußwort. Darin hob er die Bedeutung des Tagungsthemas und der Beschäftigung mit jüdischer Geschichte als wichtigen Beitrag sowohl im Kampf gegen den zunehmenden Antisemitismus hervor als auch in Reaktion auf die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023. Sodann führte PETER FASSL (Augsburg) in das Thema ein und verwies auf dessen brennende Aktualität vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Nahost. Der Fokus liege auf den Vorgängen in Bayerisch-Schwaben, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Abläufe vor Ort, zwischen Stadt und Land herauszuarbeiten, bisher bestehende Narrative zu dekonstruieren, Täter, Profiteure und Beteiligte zu identifizieren.

Die erste Sektion eröffnete DIETMAR SÜSS (Augsburg) mit einem vergleichenden Überblick über die Ereignisse vom November 1938 in Bayerisch-Schwaben und Hessen. Er stellte die Frage nach den Tätern und Beteiligten in den Mittelpunkt und entkräftete das vielerorts vorherrschende Entlastungsnarrativ von außen kommender, gewalttätiger „brauner Horden“. Vielmehr sei der Gewaltimpuls oftmals „von unten“, von lokalen Trägern ausgegangen, die zugleich „von oben“ in ihrem Handeln bestärkt worden seien. Die Gruppe der Beteiligten sei viel größer als bisher angenommen gewesen, da Beteiligung an den Gewaltakten und Bereicherung an jüdischem Eigentum auch nach 1945 juristisch kaum sanktioniert wurde. Einen Perspektivwechsel vollzog Fassl mit einer quellengestützten Analyse der Erinnerungen schwäbischer Jüdinnen und Juden an das Pogrom 1938. Anhand von Zeitzeugenberichten, die teilweise als Lebenserinnerungen erst seit den 1980er-Jahren dokumentiert wurden, zeigte er, wie unterschiedlich das individuelle Erinnern an die Ereignisse ausfallen und sich im Lauf der Zeit verändern konnte. Exemplarisch zog Fassl die Erinnerungen der Familie Dahn und der Zeitzeuginnen Irmgard Hirsch, Hannah Bernheim und Julie Wachenheimer heran, die das Pogrom unter anderem in Augsburg und Ichenhausen erlebt hatten.

Wie sich Erinnerungskultur ohne Zeitzeugen etablieren kann, veranschaulichte CARMEN REICHERT (Augsburg) am Beispiel der heutigen jüdischen Gemeinde Augsburg-Schwaben, die gemeinsam mit dem Jüdischen Museum Augsburg-Schwaben jährlich am 9. November eine Gedenk- und Erinnerungsveranstaltung ausrichtet, ohne selbst noch über Zeitzeugen oder Nachkommen der Ereignisse in Augsburg im November 1938 zu verfügen. Ein Großteil der Gemeinde ist osteuropäisch geprägt, was auch ihre Erinnerungskultur beeinflusst. So gedenkt sie der Opfer der Shoah, nicht jedoch des Pogroms. Dass sich Erinnerung auch an materielle Werte knüpft, veranschaulichte MONIKA MENDAT (Friedberg) mit Ausführungen über das durch das Pogrom verletzte jüdische Kulturgut. Auf der Basis einer Definition des Begriffs Kulturgut, die darauf abhebt, dass hinter jedem Kulturgut ein Mensch stehe, präsentierte die Referentin drei Arten verletzter jüdischer Kulturgüter aus Schwaben: das nicht als solches erkannte, das versteckte und lange Zeit vergessene und das ins Ausland gebrachte. Anhand ausgewählter Exponate zeichnete sie den Weg einzelner Kulturgüter nach und ordnete diese den genannten Kategorien zu.

Zum Abschluss der ersten Sektion führte EDITH RAIM (Augsburg) die juristische Aufarbeitung und Ahndung der Geschehnisse des Pogroms nach 1945 in Westdeutschland aus, mit einem Schwerpunkt auf der bayerisch-schwäbischen Justiz. Sie betonte, dass die Besatzungsbehörden die Strafverfolgung des Pogroms bereits früh in die Hände der westdeutschen Justiz legten, die die Verbrechen anhand des geltenden Strafrechts ahndete. Schwierigkeiten traten vielfach bei der Verfahrenseinleitung auf. Anhand einer statistischen Auswertung der verfügbaren Akten der Staatsanwaltschaften Augsburg, Kempten, Memmingen zeigte Raim, wie viele Verfahren in Schwaben eingeleitet und verhandelt und welche Urteile gefällt wurden, und machte deutlich, dass nur ein Bruchteil der Täter tatsächlich zur Rechenschaft gezogen wurde.

Die zweite Sektion verschob den Blickwinkel hin zum regionalen Geschehen. OTTMAR SEUFFERT (Donauwörth) ging auf die Geschehnisse im Ries ein. Dabei charakterisierte er zunächst die dortigen jüdischen Gemeinden in Nördlingen, Wallerstein, Hainsfarth und Oettingen und präsentierte für jeden Ort eine detaillierte vergleichende Chronik der Ereignisse. Gemeinsam war den drei Orten, dass sich die Gewalt erst verzögert, zwischen dem 10. und 11. November 1938 jedoch mit voller Kraft entlud.

Mit Blick nach Buttenwiesen in Mittelschwaben widersprach JOHANNES MORDSTEIN (Wertingen) dem Begriff Pogromnacht, denn die Gewalttaten ereigneten sich dort am helllichten Tag – wie in Nordschwaben zeitverzögert, am 10. November 1938. Betroffen waren die Synagoge und der jüdische Friedhof; ein Großteil der Kultusgegenstände wurde zerstört. Darüber hinaus wurden jüdische Geschäfte und Wohnhäuser geplündert, acht jüdische Bewohner verhaftet und ins KZ Dachau verschleppt. Obwohl sich das seit Jahrzehnten kolportierte Narrativ von auswärtigen Tätern, so das Fazit des Referenten, nicht mehr halten lasse, wie neuere Forschungen zeigten, stehe eine gründliche Aufarbeitung der NS-Zeit in Buttenwiesen noch aus. Sodann ging ANTON KAPFER (Binswangen) auf die Pogromereignisse in der nahe bei Buttenwiesen gelegenen jüdischen Gemeinde Binswangen ein. Wie in der Nachbargemeinde habe sich das Pogrom am helllichten Tag vollzogen. Desgleichen sei die Quellenlage für die unmittelbaren Ereignisse vor Ort ausgesprochen dürftig; allerdings liegen Berichte von Zeitzeugen vor, bei denen es sich jedoch nicht um Opfer des Pogroms handelt. Demzufolge stammten die Täter von auswärts, allerdings nahmen Binswanger als Zuschauer an den Exzessen teil und beteiligten sich an den Plünderungen jüdischer Haushalte. Die Synagoge wurde geplündert und zerstört, jedoch nicht angezündet; die jüdische Gemeinde wurde gezwungen, sich an der Schändung der Kultgegenstände zu beteiligen.

Aus der Perspektive der Opfer berichtete BARBARA SALLINGER (Krumbach) anhand von Entnazifizierungsakten des Altlandkreises Krumbach, die Aussagen sowohl von überlebenden jüdischen Einwohnern Krumbachs als auch von Tätern enthalten und die Abläufe vom 10. bis zum 14. November in ihrer sadistischen, demütigenden Brutalität sehr detailliert nachvollziehen lassen. Neun Personen wurden angeklagt, alle blieben straffrei. Den Quellenbestand von Spruchkammerakten nutzte auch FRANZ JOSEF MERKL (Marxheim) für die Aufarbeitung des Fischacher Beispiels. Die aus diesen Quellen erhobenen Erkenntnisse konfrontierte der Referent mit dem schönfärberischen Nachkriegsnarrativ einer Schulchronik. Obwohl ein SA-Sturm im Ort vorhanden war, beteiligte sich dieser nicht am Pogrom, stattdessen wurden lokale Helfer aus den Reihen der Gendarmerie rekrutiert. Die Fischacher Chronologie nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als sich nach den ersten Gewaltexzessen am 10. November 1938 weitere Raubzüge am 15. und 16. November anschlossen, die ebenfalls von der örtlichen Gendarmerie begangen wurden. Ebenso eigneten sich weitere Fischacher Bürger im Nachgang des Pogroms unrechtmäßig jüdisches Eigentum an und machten sich zu Mittätern. Das Pogrom markierte also einen Startpunkt für weitere Maßnahmen gegen die jüdischen Einwohner des Ortes.

Als letzter Referent für Mittelschwaben berichtete RALPH MANHALTER (Altenstadt) über die Geschehnisse in der jüdischen Landgemeinde Altenstadt und in der Stadt Neu-Ulm. Hier schwappte die Gewalt aus dem benachbarten Ulm trotz einer Sperrung der Donaubrücke herüber. In Altenstadt kam es am Abend des 10. November 1938 zu ersten antijüdischen Aktionen, an denen der örtliche SA-Sturm, jener aus der Nachbargemeinde Vöhringen und weitere Altenstädter Bürger beteiligt waren. Neben der Verhaftung von sieben jüdischen Bürgern richtete sich die Gewalt zudem gegen „judenfreundlich gesinnte Bewohner“. Sie wurden öffentlich bedroht und denunziert. Darüber hinaus kam es zur Brandstiftung an der Synagoge und Plünderungen. Ebenso thematisierte Manhalter die juristische Aufarbeitung nach 1945, die zu mehreren Verurteilungen führte.

RENATE WEGGELs (Augsburg) Ausführungen zu Beginn der dritten Sektion galten der Augsburger Synagoge, insbesondere der Frage, warum das Bauwerk das Pogrom und die gesamte NS-Zeit – im Gegensatz zu zahlreichen Landsynagogen – weitestgehend unbeschadet überstehen konnte. Dies war vor allem darin begründet, dass es nicht in städtische Hände fiel, weil kein Verwendungszweck gefunden und es auch nicht veräußert werden konnte, sodass bauliche Veränderungen unterblieben. Nicht zuletzt blieb das Gebäude während des Pogroms wegen seiner zentralen Lage weitgehend von Zerstörungen verschont. CHRISTOPH ENGELHARD (Memmingen) ging mit Memmingen auf die neben Augsburg zweite städtische jüdische Gemeinde in Bayerisch-Schwaben ein. Hier wurde das Nachkriegsnarrativ der auswärtigen Täter von Oberbürgermeister Dr. Heinrich Berndl stark geprägt. Nach neueren Erkenntnissen war er jedoch selbst für das Pogrom in Memmingen mit verantwortlich. Es begann am 10. November, da am Tag zuvor noch eine Gedenkveranstaltung anlässlich des Hitlerputsches 1923 stattfand, und zog sich bis zum 11. November hin. Die Synagoge wurde geplündert und zerstört, jüdische Wohn- und Geschäftshäuser wurden überfallen, das Inventar zertrümmert, die Bewohner misshandelt. Engelhard rekonstruierte zwei Routen, auf denen der örtliche SS-Sturm, einer minutiös geplanten Agenda folgend, durch die Stadt zog, wobei er sich u.a. an einer Liste von Adressen jüdischer Wohn- und Geschäftshäuser orientierte.

Im benachbarten Fellheim, das VERONIKA HEILMANNSEDER (Fellheim) vorstellte, lebten zum Zeitpunkt des Pogroms noch vier jüdische Familien. Am 10. November wurden die männlichen jüdischen Einwohner verhaftet und am 11. November ins KZ Dachau verschleppt, während die weiblichen Familienmitglieder in Fellheim verblieben. Über die Ausschreitungen selbst ist aufgrund fehlender Quellen wenig bekannt, so die Referentin. Gesichert ist hingegen die Identität der Täter, die aus dem Nachbarort Boos stammten, aber keiner NS-Organisation angehörten. Sie starteten eine erste Plünderungs- und Zerstörungswelle, von der vor allem jüdische Wohn- und Geschäftshäuser betroffen waren. Ein zweiter Übergriff galt der Synagoge, der von der Memminger SS begangen wurde, die im Nachgang zu den Ereignissen in ihrer Kommune Fellheim aufsuchte. Nach 1945 wurde vier Tatbeteiligten aus Boos der Prozess gemacht, von denen drei verurteilt wurden. Abschließend präsentierte KATRIN HOLLY (Augsburg) die Kemptener Erinnerungskultur zum Pogrom in der Nachkriegszeit. Obwohl zu den eigentlichen Abläufen in Kempten wenig bekannt ist, stellte das kommunale Narrativ die Ereignisse in ein mildes Licht, obwohl die Erfahrungen für die Betroffenen einschneidend waren. Auch den Anteil des Heimatforschers und Oberbürgermeisters Otto Merkt an der Genese der euphemistischen Überlieferung hinterfragte Holly kritisch.

Zum Abschluss der Tagung fasste Peter Fassl die gewonnenen Erkenntnisse zusammen. Zum einen war deutlich geworden, dass die Gewaltexzesse in Schwaben teilweise zeitlich versetzt begannen und sich ihre Dauer von Ort zu Ort stark unterschied. Gängige lokale Geschichtsüberlieferung aus der Nachkriegszeit, denen zufolge auswärtige „braune Horden“ schuld gewesen seien, konnten widerlegt werden. In vielen Orten waren Einheimische an den Ereignissen beteiligt: als aktive Täter und als passive Beobachter, die nicht gegen das Unrecht einschritten. Zudem bereicherten sie sich vielerorts an jüdischem Eigentum. Spruchkammer- und andere Justizakten aus der Nachkriegszeit bieten wertvolle Informationen zur Rekonstruktion der Ereignisse vor Ort. Weiterhin wurde deutlich, dass mit den vorhandenen Bildquellen deutlich kritischer umgangenen werden sollte, als bisher oft geschehen. Denn häufig wurden sie nach dem Ende der Ausschreitungen von den Tätern selbst aufgenommen und prägten somit deren Perspektive auf das Geschehen im visuellen kommunalen Gedächtnis. Insgesamt habe die Tagung, so Fassl, das gesteckte Ziel, neue Erkenntnisse zu erarbeiten und eine Gesamtschau auf das Pogrom in Bayerisch-Schwaben zu bieten, erfüllt. Gleichwohl bedürfe es weiterer Forschungen, etwa zu den kirchlichen Reaktionen auf örtlicher Ebene.

Konferenzübersicht:

Begrüßung – Grußwort – Einführung

Markwart Herzog (Irsee) / Corinna Malek (Augsburg): Begrüßung

Ludwig Spaenle (München): Grußwort

Peter Fassl (Augsburg): Einführung und zum Stand der Forschung

Sektion 1: Das Reichspogrom 1938 in Schwaben

Dietmar Süß (Augsburg): Das Reichsprogrom vom November 1938. Bedeutung, Fragen, Diskussionen

Peter Fassl (Augsburg): Erinnerungen schwäbischer Juden an das Reichspogrom 1938

Carmen Reichert (Augsburg): Die Erinnerung an das Reichspogrom 1938 in der Jüdischen Kultusgemeinde Augsburg-Schwaben

Monika Mendat (Friedberg): Das verletzte Kulturgut

Edith Raim (Augsburg): Die juristische Aufarbeitung des Pogroms in Schwaben nach 1945

Sektion 2: Jüdische Gemeinden in Nordschwaben, im Ries und in Mittelschwaben

Ottmar Seuffert (Donauwörth): Das Pogrom im Ries

Johannes Mordstein (Wertingen): Das Pogrom in Buttenwiesen

Anton Kapfer (Binswangen): Das Pogrom in Binswangen

Barbara Sallinger (Krumbach): Das Pogrom in Krumbach

Franz Josef Merkl (Marxheim): Das Pogrom in Fischach

Ralph Manhalter (Altenstadt): Das Pogrom in Altenstadt

Sektion 3: Jüdische Gemeinden in Augsburg und im Allgäu

Renate Weggel (Augsburg): Die verschonte Synagoge Augsburgs und was aus ihr werden sollte

Christoph Engelhard (Memmingen): Das Pogrom in Memmingen

Veronika Heilmannseder (Fellheim): Das Pogrom in Fellheim

Katrin Holly (Augsburg): Reichspogromnacht und Nachkriegsnarrative in Kempten

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